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Inhaltsverzeichnis
Einsparen durch Temperaturabsenkung
Klimabewusste Menschen formulieren es oft so: „Also ich finde 15 °C Raumtemperatur im Winter komfortabel genug. Warum machen wir es künftig nicht überall einfach so?“
Die Frage soll hier aus möglichst objektiver Sicht1) behandelt werden. Genau dies können wir leisten: Weder müssen wir solche Ansätze aus irgendwelchen Gründen fürchten2), noch ist das die einzige noch verfügbare Lösung, ohne die Klimaschutz nicht realistisch möglich wäre. Rein thermodynamisch und physiologisch ist dieser Ansatz technisch 'machbar'3). Wir werden auch diskutieren, was eine solche „Suffizienz-Maßnahme“ tatsächlich bringt (Spoiler: es sind beim gegenwärtigen durchschnittlichen Zustand der Gebäude rund 50% Heizwärmeeinsparung, wenn das im Durchschnitt „alle“ machen) und warum das, vielleicht für viele überraschend, nicht als von vorn herein „völlig inakzeptabler und unsozialer Ansatz“ abgetan werden kann. Das wird erkennbar, sobald genauer beschrieben ist, wie ein solches „neues Komfortnormal“ technisch, d.h. kleidungstechnisch, umgesetzt werden könnte. Es wird dann daraus auch erkenntlich, wieso das in den modernen Gesellschaften noch nicht einmal 'theoretisch' diskutiert werden „darf“4). Schließlich gehen wird darauf ein, wie sich das im Vergleich zu anderen Ansätzen einordnet bzw. wie es mit solchen, zumindest ansatzweise, verbunden werden kann.
1. Die physiologischen Fakten: 15 °C, wie ultrakalt ist das?
Bei der heute üblichen Kleiderordnung (Winter, Innenraum) führen 15°C bei sitzenden Personen auf mittlere Komfortbewertung „cool“(minus 2,2); das führt dazu, dass sich über 85% der Personen in einem solchen Raum aktiv beklagen. Das kann ziemlichen Unmut bedeuten und die jeweils Zuständigen sind dann so massiv unter Druck, dass zumindest mit allen zugänglichen Mittel versucht wird, nachzuheizen. Fanger hatte das einmal so formuliert: „Darüber kann theoretisch diskutiert werden. Die betroffenen Menschen interessiert diese Diskussion aber gar nicht. Die beschweren sich eben - und die sind sich dann auch in großer Mehrheit einig, dass 'es hier viel zu kalt' ist.“ Die folgenden Abschnitte diskutieren das etwas differenzierter: Dabei sollten wir aber immer bedenken, dass die gegenwärtige Kleiderordnung so ist, wie sie ist - und bewusst verändert werden müsste. Darüber redet derzeit niemand groß öffentlich; und das hat, wie die meisten genau wissen, gute Gründe.
2. Die Messung und Bewertung des Behaglichkeitsempfindens ist eine gut etablierte Wissenschaft: Interessanterweise sehr gut gesichert und mit wissenschaftlichem Konsens; Stichwort: Ole Fanger
Die Grundlagen zur Bewertung der thermischen Behaglichkeit wurden in dem Werk von Ole Fanger „Thermischer Komfort“ in genialer Weise geklärt. Fanger stellte dort die allgemein anerkannte „Behaglichkeitsgleichung“ auf, die auch heute die Basis der international eingeführten Norm ISO 7730 ist. Wir erklären diese Zusammenhänge ausführlich an anderem Ort: Komfortbänder für die Behaglichkeit. Es lohnt sich, sich für das Verständnis dieser Zusammenhänge die Zeit zu nehmen, das zu studieren. Denn: Ole Fanger hat nicht nur die subjektiven Maßstäbe quantifizierbar gemacht, er hat sogar ein gutes Modell dazu entwickelt, das die Phänomene verständlich macht und sogar angeben kann, wie groß die Zahl derer sein wird, denen ein Innenraumklima nicht akzeptabel erscheinen wird.
Eine weitere Bemerkung dazu: Fangers Werk hat eine internationale Forschungsanstrengung ausgelöst; vor allem, weil an vielen Orten Forscher ursprünglich ganz andere Vorstellungen hatten und ihnen die Ergebnisse von Fanger nicht wirklich gefallen haben. Sie haben die ausgeführten Bewertungstests daher in ihren Ländern besonders kritisch und sorgfältig überprüft: Und sie kamen (alle!) zu mit Fanger übereinstimmenden Ergebnissen; unabhängig von Hautfarbe, Nation, Geschlecht, Alter und sozialem Stand der Personen. Das wiederum wird auch heute noch viele überraschen - es wird aber sofort klar, sobald wir uns nur ernsthaft um ein Verständnis bemühen5).
3. Behaglichkeit und Kleidung: Überraschung! Doch, da geht was
Der Zusammenhang ist mit etwas Nachdenken leicht unmittelbar erkennbar: Das Temperatur-Behaglichkeits-Niveau hängt sehr stark von der Kleidung ab und übrigens auch von der körperlichen Aktivität. Das ergibt sich unbestritten aus den sorgfältig durchgeführten Untersuchungen in der Forschung. Der Zusammenhang kann sogar gut quantifiziert werden: Die Kleidung wird dabei nach ihrem Wärmedurchgangswiderstand klassifiziert, die moderne Einheit dafür ist „m²K/W“, das ist gerade der Kehrwert des Wärmedurchgangskoeffizienten der Kleidung6). Fanger hatte dafür eine eigene, anschauliche, neue Maßeinheit eingeführt, die er '1 cloth' nannte und die der (damaligen) üblichen durchschnittlichen Winterkleidungsordnung in seinem Bundesstaat entsprach (da gehörte dann im Winter durchaus eine „Jacke“ dazu). Zweifelsohne kann eine Gesellschaft sich über Kleiderordnungen einigen, die weit besser warmhalten. In irgendeiner Form objektiv nachteilig ist das zunächst einmal nicht: Gut, eine 10 cm aufgeplusterte Polarausrüstung, das wäre dann schon fraglich, ob ich damit am PC noch vernünftig arbeiten kann - irgendwann würde das zumindest umständlich werden. Wollen wir erst einmal nüchtern nachkalkulieren, welche „Kleiderordnung“ es für 15°C-Winter-Raumtemperatur benötigen würde. Dazu nutzen wir ISO 77307) , um die angepasste Kleidung zu 15 °C zu bestimmen. Es sind dazu noch zwei weitere Eingaben erforderlich: Die Differenz von Strahlungs-und Lufttemperatur und die Aktivität der Person. Für die Temperaturen nehmen wir zunächst der Einfachheit halber an, dass Strahlung und Luft im Gleichgewicht und annähernd gleich sind8) . Für die Aktivität nehmen wir den Fall „sitzende Tätigkeit“ an, weil das zumindest ein häufig vorkommender Fall ist. Bei 15 °C liefert die Komfortgleichung dann einen Bekleidungs-Wärmedurchgangswiderstand von 1,85 cloth9). „1,85 cloth“, was bedeutet das in der Praxis? Gegenüber den heute 'üblichen' Werten im Winter (von 0,8 bis 1,1 cloth) ist das gut „doppelt so dick“ gekleidet, konkret einmal illustriert durch eine Beispiel-Tracht:
„Lange Unterhose, langärmeliges Unterhemd, „warmes“ (Flanell-)Hemd, Flanell-Hose, dicker Pullover, Jacke, Handschuhe (!).“
Führen wir uns das vor Augen, wird sofort klar: Zunächst, wieso die 15°C schon „gehen“, dazu werden nämlich fast alles sagen: Ja klar doch, so geht das schon. Etwas zynisch überzogen ist der Kommentar dazu dann: „Dann sitzen wir im langen Wintermantel im Wohnzimmer“. Es ist ja eben auch aus der ganz persönlichen Erfahrung bekannt, dass wir uns durch „dicke Kleidung“ auch an sehr kalte Bedingungen anpassen können. Und genau darum geht es dann: Diese als extrem empfundene „neue Kleiderordnung“ wird nach Jahrzehnten anderer Handhabung als Zumutung verstanden. Das ist die weit überwiegende Bewertung der Menschen dazu - und dabei dürfen wir uns nicht selbst täuschen, die meisten von denen, die es als Zumutung empfinden, sind dabei keinesfalls extreme so genannte 'Querdenker' - sondern überwiegend sehr gutmütig, aber rundum verstimmt über diese Art 'Lösung'. Den weniger gutmütigen Anteil in der Gesellschaft gibt es auch, und wie wir heute sehen, ist der sogar gar nicht ganz klein: Dieser Teil wird diese 'Zumutung' lautstark und aggressiv kommunizieren - und dadurch auch bei vielen weiteren Personen10) punkten. Das ist eine Gefahr, die ich sehr konkret erkenne und die ich, wenn immer das vernünftig möglich ist, versuchen würde zu vermeiden. Nun aber auch noch meine ganz persönliche 'Bewertung' eines solchen Ansatzes: Die hoch industrialisierten Gesellschaften haben im Verlauf der letzten ca. 70 Jahre den Wohlstand für den überwiegenden Teil der dort lebenden Menschen enorm erhöht11). Z.B. ist die pro Person verfügbare Wohnfläche von unter 20 m²/Person vor 1960 auf über 47 m²/Person angestiegen. Diese Flächen sind heute nahezu alle mit komfortablen Zentralheizungen beheizt - jeweils keine wirklich 'billige Lösung', aber wir konnten uns das nahezu problemlos 'leisten'. Die Wohnungen haben heute kaum noch extrem kalte Einscheibenverglasungen12) und sind auch nicht mit mehrmals geflickten schon von den Urgroßeltern geerbten Möbeln ausgestattet: M.a.W., das Wohlstandsversprechen ist tatsächlich in einem sehr hohen Maß eingehalten worden. Vor diesem Hintergrund wäre eine derart massive Rücknahme einer Wohlstandskomponente, wie das Absenken der Raumtemperaturen auf 15°C, ein Anachronismus. Er wird es noch mehr, wenn wir erkennen, wie wenig das in Bezug auf die Probleme, die wir heute haben, wirklich 'bringt', vgl. den folgenden Abschnitt 3 und vor allem, welche Alterativen uns zum Komfortverzicht zur Verfügung stehen: Alternativen, die den Komfort sogar erhöhen und zugleich die durch unreflektiertes materielles Wachstum unbeabsichtigt erzeugten Probleme wirklich lösen.
4. Wie sind die Potentiale durch Absenkung der Raumtemperaturen einzuordnen?
Oben wurde schon ausgewiesen, dass sich für ein heute durchschnittliches Wohngebäude in Deutschland (Gesamtbestand) bei einer Absenkung von rund 22 °C auf die genannten 15°C eine Einsparung von rund 50% des Heizwärmebedarfs ergibt. Das ist tatsächlich eine ganze Menge- und das würde die Emissionen sogar noch stärker senken, weil dann der Deckungsanteil der Erneuerbaren erhöht und kohlenstoffärmere Brennstoffe bevorzugt werden können (Zur Ermittlung dieser Werte siehe hier).
Wie steht es um die praktische Umsetzbarkeit? Oder, anders gefragt, welcher Prozentsatz der Bevölkerung macht da bis zu welcher Konsequenz mit? Das ist seit dem Sommer 2022 in Deutschland keine rein theoretische Frage mehr: Wegen des Fehlens der russischen Gas- und Öllieferungen haben Versorger, Bundesnetzagentur und Bundes- wie Länderregierungen explizit zu „sehr sparsamem Verhalten“ aufgefordert. In dieser drastischen Form gab es das in der Bundesrepublik noch nicht zuvor. Wir haben in einem Blogbeitrag vom 5.4.2023 dargelegt, dass bei der Heizung der Haushalte und anderen „Kleinverbrauchern“ tatsächlich eine Einsparung von rund 15% erreicht wurde - in der Summe aller Einsparungen, da sind z.B. auch das Ausweichen auf Holzöfen oder die Nachdämmung von Rohrleitungen mit dabei. Nehmen wir einmal an, es wäre wirklich überwiegend auf eine Abendsenkung der Raumtemperaturen zurück zu führen. Dann wäre das eine Absenkung um rund 2 Grad; und das wäre tatsächlich eine ziemlich gute „Einsparleistung“13). Was ich aber auch sehe: Unter den herrschenden Bedingungen davon 'mehr' und das auch dauerhaft zu erwarten, ist unrealistisch. Unter enormem Druck der Verhältnisse wird vielleicht durchaus kurzzeitig mehr erzwungen - aber zu welchem Preis?
5. Geht es denn auch anders?
Es gibt andere Ansätze, die es erlauben, weniger Kohlenstoff für Heizzwecke zu verbrennen und die hohe Potentiale haben:
- Der Bewohner kann z.B. auf Holzofen statt Gasheizung umsteigen; das haben einzelne auch getan. Wir wissen allerdings heute, dass die Umweltbelastung dadurch eher noch steigt. Wichtiger: Die Potentiale an insgesamt verfügbarer Biomasse sind gering und in Deutschland praktisch bereits ausgeschöpft. Der Anteil der Biomasseheizung wird künftig eher zurückgehen müssen14), vor allem, weil der Einsatz der nur knappen Biomasse-Potentiale für andere Anwendungen Priorität hat.
- Anschluss an Nah- oder Fernwärme: Das empfehlen wir grundsätzlich, wenn ein solches Angebot besteht. Allerdings: Die Wärmeerzeugung für diese Netze wird auf Dauer nicht weiter überwiegend auf Erdgas basieren können, hier stehen bedeutende Umstellungen noch aus. Rund 13% Fernwärmeanteil hat Deutschland derzeit; er kann, sehr engagiert angegangen, etwa verdoppelt werden. Das hat somit ein Potential, das ebenfalls etwa in der Größenordnung der im Winter 2022/23 durch Temperaturreduktion erreichten Beiträge liegt. Das Gute an diesem Potential: es kann nachhaltig umgesetzt werden und bietet eine dauerhafte Lösung - bei der niemand befürchten muss, irgendwann frieren zu müssen15). Es 'löst' einen Anteil von 13% des Problems, es ist ein wichtiger Beitrag, aber nicht der entscheidende.
- Umrüsten auf Wärmepumpen: Das ist im Grundsatz für fast alle der 50% Gas und 25% Ölheizungen in Deutschland möglich. Das geht, im Gegensatz zu manchen 'Vorstellungen', nicht von heute auf morgen, auch nicht für alle innerhalb von z.B. 6 Jahren - weil dazu schon allein die Kapazität des einschlägigen Handwerks nicht entfernt ausreicht; eine beschleunigte Umrüstrate ist auch nicht sinnvoll, denn einen z.B. 2012 erneuerten Kessel jetzt abzuwracken ist ökologisch nicht empfehlenswert - ökonomisch sowieso nicht. Auch das Umrüsten erfolgt in den überwiegenden Fällen dann, wenn der Kessel sowieso abgängig ist. Genau dann empfehlen wir das ganz dringend: Es wäre wirklich unklug, dann wieder einen fossil betriebenen Kessel einzubauen16). Eine solche Umstellung reduziert für das betreffende Gebäude die Netto-CO2-Emissionen im Schnitt der nächsten 26 Jahre um etwa 75%. Das ist viel mehr, als jede der schon angesprochenen Maßnahmen, insbesondere rund 5mal so viel, wie durch die 2022/23 erreichte Temperaturabsenkung und sogar mehr, als eine generelle Absenkung auf nur noch 15°C bringen könnte. Damit ist es für uns keine Frage, dass wir diese Umstellung empfehlen. Ein Wehrmutstropfen ist: Die üblicherweise heute noch gewählten praktischen Ausführungen sind oft ziemlich teuer; die finanzielle Förderung ist hier nur ein Teil der Lösung, es muss daran gearbeitet werden, die Lösungen kostengünstiger zu machen, und das geht auch, wir zeigen dafür eine ganze Reihe von Lösungen auf.
- Wärmeschutz am Gebäude: Das hat nach von uns ausgewerteten Modernisierungen ein Potential von im Durchschnitt 75%17) und das geht ebenfalls in fast allen bestehenden Gebäuden (Ausnahmen: Denkmäler aber auch Neubauten nach 2002, weil die einfach noch nicht „dran“ sind). Diese Maßnahme bringt ebenfalls erheblich mehr, als selbst eine dramatische Temperaturabsenkung. Der Wärmeschutz geht sogar mit einer Komfortverbesserung einher. Er erleichtert nachfolgend die Umrüstung auf Wärmepumpen erheblich und macht diese oft erst möglich, in jedem Fall weniger aufwändig und kostengünstiger. Wird der Wärmeschutz gut konzipiert und beim richtigen Anlass ausgeführt, dann ist das eine ökonomisch attraktive Lösung. Für ein konkretes Gebäude kann mit der Energieberatungssoftware ENBIL schnell geprüft werden, welche Maßnahmen im Einzelfall in Frage kommen und wie stark sie die Energiekosten senken.
Alle hier genannten weiteren Lösungsbeiträge können mit einer „Suffizienz-Maßnahme“ Temperaturabsenkung natürlich auch kombiniert werden. Dabei sind die erzielten prozentualen Einsparungen dann sogar noch höher als bei einer fossilen Brennstoffheizung: Wärmepumpen laufen effizienter bei niedrigeren (Vorlauf-)Temperaturen und bei besserer Dämmung sinkt der Wärmebedarf mit jedem Grad sogar mehr als zuvor. Auch das ist unter "Was können Temperaturreduktionen?"| belegt.
Ein Fazit: Temperaturabsenkungen können realistisch 15 bis 20% insgesamt zu einer Reduktion in einer Region beitragen. Sie können allein das Problem nicht lösen - aber einen Beitrag leisten. Der letztendliche Übergang zu einer nicht mehr brennstoffbetriebenen Heizung ist alternativlos. Das können Nah/Fernwärmeanschlüsse oder Wärmepumpen sein, in kleinerem Umfang auch ein paar eher exotische Systeme (weniger als 5%). Der Übergang auf Wärmepumpen in der Breite muss durch verbesserten Wärmeschutz vorbereitet und unterstützt werden, sonst wird es im Stromnetz insgesamt im Winter eng und auch ein stark forcierter Windkraftausbau käme dann nicht hinterher. Mit schrittweisen Verbesserungen beim Wärmeschutz geht es aber. Dann muss Windkraft ebenfalls schneller ausgebaut werden, wie bisher geplant, weil das die erneuerbare Ressource ist, die auch im Winter liefert18).